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Die Ersparnisse in Europa für Investitionen und Innovationen nutzbar machen
Rede von Christine Lagarde, Präsidentin der EZB, anlässlich des 34. Europäischen Bankenkongresses zum Thema „Out of the Comfort Zone: Europe and the New World Order
Frankfurt am Main, 22. November 2024
Beim letztjährigen Kongress drehte sich meine Rede um die fragmentierten Kapitalmärkte in Europa und darum, wie dringlich die Integration dieser Märkte für uns ist.
Mein Hauptargument lautete damals, dass Europa vor transformativen Veränderungen steht, für die sehr viel Geld benötigt wird, und dass wir nur Erfolg haben werden, wenn es uns gelingt, privates Kapital viel effektiver zu mobilisieren.
Damals forderte ich, die Kapitalmarktunion neu zu denken, und dass wir uns von einer Bottom-up-Harmonisierung zu einer Top-down-Integration bewegen sollten.[1]
Doch wie Martin Luther King einst sagte: Wir müssen erkennen, dass das Morgen in unserem Heute liegt. Und somit ist es nun noch dringlicher, unsere Kapitalmärkte zu integrieren.
Seit dem vergangenen Jahr zeigt sich immer deutlicher, dass Europa im Bereich Innovationen zurückfällt. Die technologische Kluft zwischen den Vereinigten Staaten und Europa ist nicht mehr zu übersehen.
Auch das geopolitische Umfeld hat sich verschlechtert, in allen Teilen der Welt kommen zunehmend Bedrohungen für den freien Handel auf. Da die EU die offenste der großen Volkswirtschaften ist, treffen sie diese Entwicklungen stärker als andere Volkswirtschaften.
Die Kapitalmarktunion steht im Zentrum all dieser Herausforderungen.
Sie ist entscheidend, wenn wir unsere Wirtschaft dynamischer und technologisch fortschrittlicher machen wollen. Banken spielen für die europäische Wirtschaft zwar eine wesentliche Rolle, doch wir wissen, dass es für die Frühphasenfinanzierung bahnbrechender Innovationen integrierte Kapitalmärkte braucht.
Auch für mehr Resilienz in einer von zunehmender Fragmentierung geprägten Weltwirtschaft wäre dies äußerst wichtig. Die Kapitalmärkte sind das fehlende Bindeglied. Mit ihrer Hilfe könnten die Menschen in Europa ihre hohen Ersparnisse in größeren Wohlstand verwandeln. Dadurch könnten sie schließlich mehr Geld ausgeben und somit unsere Binnennachfrage stärken.
Allerdings ist trotz zunehmender Dringlichkeit kein spürbarer Fortschritt in Bezug auf die Kapitalmarktunion festzustellen. Dies liegt vor allem daran, dass ihre Umsetzung weiterhin recht unscharf definiert ist.
Seit 2015 gab es mehr als 55 Regulierungsvorschläge und 50 nichtlegislative Initiativen, wobei die Breite zulasten der Tiefe ging. Infolgedessen konnte die Kapitalmarktunion durch nationale Eigeninteressen zerpflückt werden, die diese oder jene Initiative als Bedrohung empfinden.
Wenn wir also ein Umdenken erreichen wollen, müssen wir uns neu orientieren, die wesentlichen Ineffizienzen im System aufdecken und eine kleinere Zahl von Initiativen identifizieren, die am vielversprechendsten erscheinen.
Meiner Meinung nach liegt das Kernproblem der Kapitalmarktunion darin, dass die Verbindung zwischen Sparern und Innovatoren an drei wichtigen Stellen blockiert ist, wie ich gleich erläutern werde.
Erstens gelangen die Ersparnisse der Europäerinnen und Europäer nicht in ausreichendem Umfang in die Kapitalmärkte, da sie vor allem in Form von niedrig verzinsten Einlagen gehalten werden.
Zweitens: Gelangen die Ersparnisse doch in die Kapitalmärkte, so bleiben sie quasi innerhalb der Landesgrenzen stecken und stehen der europäischen Wirtschaft somit nicht zur Verfügung.
Drittens: Wenn die Ersparnisse durch die Kapitalmärkte zugeteilt wurden, gelangen sie aufgrund des unterentwickelten Ökosystems für Risikokapital nicht zu innovativen Unternehmen und Sektoren.
Die drei genannten Blockaden erfordern unterschiedliche Lösungen. Da sie sich gegenseitig verstärken, müssen sie aber als ein Problem betrachtet werden. Eine kleinere Zahl an wachstumsstarken Unternehmen bedeutet geringere Aktienbewertungen, weniger Liquidität in den EU-Märkten und weniger Rendite für die Sparerinnen und Sparer.
In meinen heutigen Ausführungen werde ich die wichtigsten Blockaden beschreiben, die ich in den einzelnen Bereichen sehe. Anschließend werde ich einige Abhilfemaßnahmen skizzieren.
Ersparnisse in die Kapitalmärkte bringen
Die Menschen in Europa sparen einen hohen Anteil ihres Einkommens, im Jahr 2023 waren es etwa 13 %[2] (Vereinigte Staaten: etwa 8 %).
In der Regel halten die Menschen in Europa ihr Geld allerdings in risikoarmen liquiden Sparprodukten. In Europa werden schätzungsweise 11,5 Billionen € in Form von Bargeld und Einlagen gehalten. Das entspricht einem Drittel des gesamten Finanzvermögens der privaten Haushalte. In den USA liegt dieser Anteil bei nur etwa einem Zehntel.
Für unsere Wirtschaft hat dies vor allem zwei Folgen:
Erstens sind die privaten Haushalte in Europa weitaus weniger vermögend als sie es sein könnten. Seit 2009 ist das Vermögen der privaten Haushalte in den Vereinigten Staaten etwa dreimal so stark gestiegen wie das der Privathaushalte in der EU.[3]
Zweitens gelangen weitaus weniger Ersparnisse in die Kapitalmärkte als möglich wäre.
Wäre das Verhältnis zwischen den Einlagen und sonstigen Finanzanlagen der privaten Haushalte in der EU so wie das der privaten Haushalte in den USA, so könnte ein Betrag von bis zu 8 Billionen € in langfristige marktbasierte Investitionen umgeleitet werden – oder Kapital in Höhe von etwa 350 Mrd. € jährlich, so das Fazit einer EZB-Analyse.
Wie kommt es also, dass die Menschen ihre Vermögenswerte nicht diversifizieren?
Ein wichtiger Aspekt in diesem Zusammenhang ist, dass Retail-Investitionen in Europa fragmentiert, intransparent und teuer sind.
In vielen Ländern ist Investieren komplex, und Anlageprodukte werden von Finanzberatern vermittelt, denen die Menschen nicht immer vertrauen. 45 % der Verbraucherinnen und Verbraucher geben an, dass sie nicht sicher sind, ob die Anlageempfehlungen in erster Linie ihren Interessen entsprechen.[4]
Und wenn Privathaushalte ihr Geld doch anlegen, machen sie häufig nicht das beste Geschäft. Beispielsweise bezahlen Privatanleger von europäischen Investmentfonds fast 60 % mehr Gebühren als Privatanleger in den Vereinigten Staaten.[5]
Aus diesem Grund entscheiden sich viele Europäerinnen und Europäer von vornherein für garantierte Sparkonten.
Wenn die Märkte von stärkerem Wettbewerb geprägt sind und Verbraucher aus einer breiten Palette an geeigneten Anlageprodukten wählen können, ändert sich das Investitionsverhalten durchaus. In den Niederlanden, in Schweden und in Dänemark verwalten die privaten Haushalte ihr Vermögen ähnlich wie die Privathaushalte in den USA – sie halten nur 10 % bis 20 % ihres Finanzvermögens in liquiden Formen.
Wenn wir also das erste Investitionshindernis aus dem Weg räumen (dass genug privates Geld in den Kapitalmarkt gelangt), dann brauchen die Sparerinnen und Sparer in Europa auch Produkte, die leicht zugänglich, transparent und erschwinglich sind. Ich bin der Auffassung, dass sich diese Ziele mit einem „europäischen Standard für Ersparnisse“ – d. h. einer Reihe standardisierter EU-Sparprodukte – am besten erreichen lassen.
Wenn man sie richtig ausgestaltet und vertreibt, wäre der Zugang zu diesen Produkten einfach, d. h. sie wären leicht verständlich, überall erhältlich und würden eine Reihe von Investitionsoptionen bieten. Sie sollten transparent sein, denn sie würden nach klaren Kriterien strukturiert, z. B. Diversifizierung, Gebührenstruktur und Portfoliozusammensetzung.
Und sie sollten erschwinglich sein, denn die Finanzdienstleister könnten EU-zertifizierte Produkte mit geringerem Bürokratieaufwand anbieten. Die Standardisierung würde wiederum zu mehr Wettbewerb und einer besseren Vergleichbarkeit führen. Beide Effekte dürften für niedrigere Gebühren sorgen.
Die Attraktivität des europäischen Standards sollte auch durch die länderübergreifende Harmonisierung von Steueranreizen gesteigert werden.
Der Markt würde entscheiden, wohin die Ersparnisse geleitet werden, nicht die Regierungen. Je nach Präferenzen der Sparer könnten auch Produkte angeboten werden, mit denen europäische Prioritäten, etwa die Finanzierung von Innovationen oder des grünen Wandels, unterstützt würden.
Europaweite Verteilung
Damit wir das Innovationspotenzial Europas voll ausschöpfen können, muss das Kapital dorthin fließen, wo die besten Ideen sind. Angesichts der Natur der digitalen Technologie – bei der oftmals hohe Vorabinvestitionen vonnöten sind – benötigen wir erhebliche Kapitalströme.
Doch auch der zweite Verbindungsabschnitt – die Verteilung des Kapitals in Europa – ist blockiert.
In Europa ist Kapital entweder innerhalb von Landesgrenzen gefangen oder es fließt in die Vereinigten Staaten ab. Betrachten wir beispielsweise Aktien, so werden mehr als 60 % der Investitionen von privaten Haushalten in Europa im jeweiligen Heimatland getätigt. Institutionelle Anleger investieren viel mehr in den US-Märkten als in der EU.
Für diese Segmentierung der europäischen Märkte gibt es vielerlei Ursachen. Ein zentraler Grund ist jedoch die außergewöhnliche Fragmentierung unserer Finanzmarktinfrastrukturen.
2023 gab es in der EU 295 Handelsplätze[6], 14 zentrale Gegenparteien und 32 Zentralverwahrer.[7] In den Vereinigten Staaten gibt es nur zwei Clearinghäuser und einen Zentralverwahrer.
Viele zentrale Gegenparteien und Zentralverwahrer gehören europaweit agierenden grenzüberschreitenden Gruppen an. Die nationalen Börsen arbeiten indes nach wie vor weitgehend getrennt voneinander, trotz einiger technischer Synergien wie z. B. konsolidierte Auftragsbücher.
Diese Fragmentierung verursacht hohe Transaktionskosten beim grenzüberschreitenden Handel, was laut einer EZB-Analyse die Präferenz der Anlegerinnen und Anleger für heimische Produkte verstärkt.[8]
Die Folge hiervon ist eine geringere Liquidität für Anleger, Emittenten und Börsen. Das tagesdurchschnittliche Handelsvolumen pro Unternehmen ist für US-Large-Caps und -Mid-Caps (Unternehmen mit großer bzw. mittlerer Marktkapitalisierung) 1,3-mal bzw. 2-mal höher als bei Large-Cap- und Mid-Cap-Firmen in der EU.[9]
Was sind die Ursachen dieser Fragmentierung?
Das Hauptproblem ist, dass innerhalb der EU unterschiedliche rechtliche Rahmenbedingungen gelten und alle sinnvollen Versuche einer Harmonisierung aus Eigeninteressen blockiert werden.
Wir haben einen Flickenteppich aus nationalem Gesellschafts-, Steuer- und Wertpapierrecht mit unterschiedlichen Anforderungen in Bezug auf Kapitalmaßnahmen, Verwahrdienstleistungen oder Berichtswesen.[10]
Dieses Problem verschärft sich durch nationale Behörden eher als dass es sich vermindert. So schreiben beispielsweise einige Mitgliedstaaten vor, dass für die Emission von Wertpapieren nach nationalem Recht oder für die Abwicklung von Neuemissionen von Staatsanleihen nationale Zentralverwahrer zu nutzen sind.
Diese Mischung aus unterschiedlichen Regelungen und Durchsetzungsstellen schränkt die Fähigkeit von Börsen und Zentralverwahrern zur Integration ihrer nationalen Plattformen massiv ein, sogar innerhalb grenzüberschreitender Gruppen.
Derzeit sind einige Fortschritte zu verzeichnen. Europa bewegt sich in Richtung eines gemeinsamen konsolidierten Datentickers[11], der zur Senkung der Transaktionskosten beitragen wird. Dieser Datenticker könnte die Handelskosten um 40 % bis 60 % verringern, indem er die Transparenz zwischen Händlern und Investoren erhöht.[12]
Er ist jedoch keine Lösung für das grundlegende Problem, nämlich dass unser schrittweiser Ansatz, der auf die Harmonisierung einer Vielzahl nationaler Rechtsvorschriften ausgerichtet ist, schlichtweg viel zu langwierig ist.
Wenn wir die Vereinigten Staaten betrachten, so kommt rechtliche Konvergenz häufig nicht durch die vollständige Harmonisierung von Gesetzen auf bundesstaatlicher Ebene zustande, sondern durch das Erlassen von Bundesgesetzen oder dadurch, dass sich das Gesetz eines Bundestaates landesweit durchsetzt. So waren beispielsweise fast 80 % aller US-Unternehmen, die im Jahr 2022 an die Börse gingen, in Delaware ansässig.[13]
In Europa werden wir nicht weiterkommen, indem wir das Rechtssystem eines Landes über das eines anderen stellen. Daher plädierte ich in meiner letztjährigen Rede für die Schaffung einer europäischen Wertpapier- und Börsenaufsichtsbehörde nach dem Vorbild der US-amerikanischen Securities and Exchange Commission (SEC). Diese könnte als Netzwerk mit Büros in den verschiedenen Mitgliedstaaten organisiert werden. Neben diesem Ziel können wir noch andere Optionen verfolgen.
Eine Option wäre ein zweistufiger Ansatz, wie wir ihn bei der Durchsetzung von Wettbewerbsmaßnahmen oder bei der Bankenaufsicht verfolgen. Unternehmen, die bestimmte Kriterien erfüllen, würden automatisch unter EU-Zuständigkeit fallen, jedoch innerhalb eines gemeinsamen, europaweiten Rechtsrahmens.
Eine weitere Option wäre die Nutzung sogenannter 28. Regime, mit deren Hilfe wir in Bereichen, in denen der Fortschritt stockt, einen speziellen Rechtsrahmen schaffen könnten. Wir hätten dann neben den verschiedenen nationalen Systemen einen separaten EU-Rechtsrahmen, für den sich Unternehmen entscheiden könnten.
Meines Erachtens wäre eine Kombination aus den beiden Optionen vermutlich der realistischste Ansatz.
Um beispielsweise den mühsamen Prozess der Harmonisierung des Aufsichtsrechts zu umgehen, könnten wir für Wertpapieremittenten ein 28. Regime ins Auge fassen. Sie würden von einem einheitlichen Gesellschafts- und Wertpapierrecht profitieren, wodurch die Platzierung, das Halten und die Abwicklung grenzüberschreitend erleichtert wird.
Für die Aufsicht würde ein solches Regime indes vermutlich nicht funktionieren, da es zu einer uneinheitlichen Durchsetzung und Fehlanreizen führen könnte, wenn Unternehmen ihre Aufsichtsbehörde selbst wählen würden. Hier wäre also ein zweistufiger Ansatz denkbar.
Anbieter von Finanzdienstleistungen, die eine Reihe von Kriterien erfüllen, – wie eine bestimmte Größe oder grenzüberschreitende Tätigkeit – würden unter die europäische Aufsicht fallen.[14] Kleinere nationale Akteure würden weiterhin von nationalen Behörden beaufsichtigt werden. Der Erfolg würde von der engen Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde und den nationalen Behörden abhängen.
Kapitalfluss in innovative Sektoren
Selbst wenn es uns gelingt, dass sich das Kapital freier innerhalb Europas bewegt, müssen wir weiterhin sicherstellen, dass es aus dem Finanzsystem in innovative Sektoren und Unternehmen fließt. Dies ist das dritte Hindernis, das die Investitionspipeline in Europa blockiert.
In hochinnovativen Volkswirtschaften gibt es üblicherweise ein Ökosystem aus Investoren wie Business Angels und Risikokapitalgebern, die für die Zuführung von Finanzmitteln an schnell wachsende Start-ups sorgen, hauptsächlich durch Bereitstellen von Eigenkapital. Allerdings ist dieses Ökosystem in Europa weitaus weniger entwickelt als in den Vereinigten Staaten. Das Volumen der Risikokapitalinvestitionen beträgt hier nur rund ein Drittel der in den USA verzeichneten Summe.[15]
Im Ergebnis haben innovative junge Unternehmen in Europa Schwierigkeiten zu wachsen, insbesondere sobald sie die Scale-up-Phase erreichen, in der größere Finanzierungsrunden nötig sind. Ein durch Risikokapital finanziertes europäisches Unternehmen erhält im Schnitt nur rund halb so viele Mittel wie sein US-Pendant.[16]
Und bei der Finanzierung von Innovationen in Europa sind wir überwiegend von ausländischen Riskokapitalgebern abhängig. Über 50 % der Late-Stage-Investitionen in europäische Tech-Unternehmen stammen aus Ländern außerhalb der EU.[17]
Als offene Volkswirtschaft begrüßen wir Investitionen aus allen Teilen der Welt. Doch wenn Tech-Unternehmer in der EU überwiegend Finanzierungsmittel aus dem Ausland erhalten, kann dies zu einer Pfadabhängigkeit führen. Unter Umständen entscheiden sich die Gründer dann, ihr Unternehmen in einem anderen Land an die Börse zu bringen und ihr Geschäft dort auszuweiten. Dies würde ich als „unbeabsichtigten Mittelabfluss“ bezeichnen.
Was können wir also tun, um diese Finanzierungslücke zu schließen?
Entscheidend ist es, die Nachfrageseite in Ordnung zu bringen. In unserem Binnenmarkt gibt es für Unternehmer zu viele Hemmnisse und bürokratische Hürden. Infolgedessen gibt es nicht so viele wachstumsstarke Unternehmen, an deren Finanzierung Risikokapitalgeber interessiert sind. Die in den Berichten von Enrico Letta bzw. Mario Draghi enthaltenen Empfehlungen zur Vollendung des Binnenmarktes sind entscheidend, damit Risikokapital in Europa eine größere Rolle spielen kann.
Doch auch an der Angebotsseite muss gearbeitet werden. Und da wir mit einem Rückstand starten, müssen wir sämtliche Flexibilität nutzen, die im europäischen Finanzsystem vorhanden ist, um Finanzmittel für Innovationen zu erschließen. Drei Änderungen könnten einen spürbaren Unterschied bewirken.
Erstens sollten unsere Regulierungsvorschriften es angesichts der natürlichen Angleichung der Anlagehorizonte langfristig orientierten Investoren ermöglichen, mehr zu langfristigem Wachstum beizutragen.
EU-Pensionsfonds legen z. B. lediglich 0,02 % ihres Gesamtvermögens in Risikokapital an, während dieser Anteil bei US-Pensionsfonds fast 2 % beträgt. Und dieser Prozentsatz bezieht sich auf eine deutlich größere Vermögensbasis: über 140 % des BIP in den Vereinigten Staaten gegenüber rund 30 % in der EU.[18]
Zweitens sollten wir das Potenzial unserer öffentlichen Entwicklungsbanken, insbesondere der Europäischen Investitionsbank (EIB), beim Risikopooling und beim Einwerben von privatem Kapital voll ausschöpfen.
Es gibt diesbezüglich bereits erfolgreiche Initiativen. 2023 riefen die EIB und sechs EU-Mitgliedstaaten die „European Tech Champions Initiative“ ins Leben. Dabei handelt es sich um einen Dachfonds, der Late-Stage-Kapital für vielversprechende europäische Innovatoren bereitstellen soll.
Bislang hat dieser Fonds 10 Mrd. € an öffentlichen und privaten Ressourcen mobilisiert und 16 Tech-Scale-ups unterstützt. Dies ist beachtlich, wenn man bedenkt, dass europäische Scale-Ups im Jahr 2023 etwa 30 Mrd. € an Risikokapital erhalten haben.
Es kann aber mehr unternommen werden, um das Potenzial der EIB auszuschöpfen und uns in die Lage zu versetzen, schneller zu vergleichbaren Volkswirtschaften aufzuschließen. Konkret sollte die EIB ihre Ressourcen effektiver einsetzen und eine höhere Zahl an unterschiedlichen Instrumenten für die Unterstützung bahnbrechender Innovationen bereitstellen dürfen. Dies gilt insbesondere für die Förderung von Start-ups in der Frühphase.
Drittens sollten wir uns damit befassen, wie wir Innovationen nicht nur mit Eigenkapital, sondern auch mit Fremdkapital unterstützen können. Europa sollte zwar darauf hinarbeiten, letztlich ein vergleichbares Niveau an Risikokapitalinvestitionen wie die Vereinigten Staaten zu erreichen, in der Zwischenzeit müssen wir aber unser bankbasiertes System bestmöglich nutzen.
Banken können bei der Finanzierung von Innovationen eine Rolle spielen. Das Aufkommen von Venture Debt in Europa in den vergangenen zehn Jahren ist beispielsweise eine interessante Entwicklung. Dabei handelt es sich um Kredite, die Start-ups in der Zeit zwischen Eigenkapitalrunden Liquidität bereitstellen. 2022 wurden rund 24 Mrd. € an Venture Debt vergeben, im Vergleich zu etwa 1 Mrd. € im Jahr 2014.[19]
Wenn die Banken risikoreicheren Sektoren Geld leihen sollen ohne dabei gegen aufsichtsrechtliche Regeln zu verstoßen, benötigen sie hierfür den entsprechenden Bilanzspielraum. Die zunehmende Verbriefung in Europa könnt hierzu beitragen.
Derzeit reichen Banken in der EU mehr als 600 Mrd. € an Immobilienunternehmen aus, aber weniger als 100 Mrd. € an Technologiefirmen – obwohl der Beitrag der beiden Sektoren zur realen Wertschöpfung in etwa gleich groß ist.[20] Instrumente, mit denen sich ein ausgewogeneres Verhältnis zwischen diesen Positionen herstellen ließe, könnten innovative Aktivitäten in Europa unterstützen.
Schlussbemerkungen
Lassen Sie mich nun zum Schluss kommen.
Leonardo da Vinci soll einmal gesagt haben: „Es ist nicht genug, zu wissen, man muss auch anwenden. Es ist nicht genug zu wollen, man muss auch tun.“
Heute kennen die europäischen Staats- und Regierungschefs die durch die Fragmentierung der Kapitalmärkte verursachten Probleme und sind gewillt, zu handeln. Doch bis dato wenden wir weder an noch tun wir etwas.
Die mangelnden Fortschritte sind letztlich größtenteils der ungenauen Definition der Kapitalmarktunion und dem daraus folgenden fragmentierten Ansatz zu ihrer Regelung zuzuschreiben. Dadurch wiederum verliert das Vorhaben womöglich an Substanz, da Eigeninteressen den verschiedenen Rechtsvorschriften entgegenstehen oder sie verwässern.
In meinen heutigen Ausführungen habe ich einen Rahmen für eine Neuausrichtung unserer Anstrengungen umrissen. Dieser soll uns die Präzision und Orientierung liefern, die wir zur Beseitigung der Blockade benötigen.
Das ist das Umdenken, über das ich im letzten Jahr sprach: es bedarf eines Perspektivwechsels. Statt vieler kleiner Schritte sollten wir lieber wenige, dafür große Schritte machen. Und wir sollten jene Maßnahmen wählen, die umsetzbar sind und am meisten bewirken.
C. Lagarde, Die Kapitalmarktunion neu denken, Rede anlässlich des Europäischen Bankenkongresses, 17. November 2023.
Des verfügbaren Bruttoeinkommens.
M. Draghi, The Future of European Competitiveness, September 2024.
Eurobarometer, Monitoring the level of financial literacy in the EU, Juli 2023.
Wenn man die asset-gewichteten durchschnittlichen Produktkosten von aktiv verwalteten Fonds für Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren im Retailbereich und von US-Investmentfonds für 2020 vergleicht. European Securities and Markets Authority, Market Report on Costs and Performance of EU Retail Investment Products 2023, Dezember 2023.
In dieser Zahl sind keine systematischen Internalisierer (Investmentfirmen, die Kundenaufträge für eigene Rechnung außerhalb eines Handelsplatzes ausführen) enthalten.
European Securities and Markets Authority, Statistics on securities and markets, Mai 2024.
Europäische Zentralbank, Financial integration and structure in the euro area, April 2022.
Euronext, Demystifying the liquidity gap between European and US equities, Euronext Equities: Liquidity Analysis, April 2024.
Unterschiedliche Quellensteuerverfahren hindern Investoren zudem immer noch daran, eine Doppelbesteuerung von grenzüberschreitenden Wertpapierbeständen zu vermeiden. Die FASTER-Initiative könnte ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung sein. Sie zielt darauf ab, die Quellensteuerverfahren in der EU für grenzüberschreitend tätige Investoren, nationale Steuerbehörden und Finanzintermediäre wie Banken oder Investitionsplattformen sicherer und effizienter zu machen. Vor ihrem Inkrafttreten muss die Initiative allerdings noch vom EU-Rat förmlich verabschiedet werden.
Der gemeinsame konsolidierte Datenticker der EU ist ein geplantes System zur Bereitstellung von konsolidierten Daten zu Kursen und Handelsvolumina von gehandelten Wertpapieren in der gesamten EU, wodurch sich die allgemeine Preistransparenz handelsplatzübergreifend erhöht.
In dieser Studie wurden die Auswirkungen der Einführung der Trade Reporting and Compliance Engine (TRACE) in den USA im Jahr 2002 untersucht, die als konsolidierter Datenticker für festverzinsliche Wertpapiere dient. Die deutliche Senkung der Handelskosten (um 40 % bis 60 %) zeigt, wie ein konsolidierter Datenticker Informationsasymmetrien zwischen Händlern und Investoren auf weniger transparenten Märkten wie dem Markt für Unternehmensanleihen verringern kann. H. Bessembinder, W. Maxwell und K. Venkataraman, Market transparency, liquidity externalities, and institutional trading costs in corporate bonds, Journal of Financial Economics, Bd. 82, Ausgabe 2, 2006.
Delaware Division of Corporations (2023), Jahresbericht 2023.
Lagarde, a. a. O., 2023.
Die jährlichen Risikokapitalinvestitionen beliefen sich in der EU zwischen 2013 und 2023 im Schnitt auf 0,2 % des BIP, verglichen mit durchschnittlich 0,7 % des BIP in den USA.
Europäische Investitionsbank, The scale-up gap: financial market constraints holding back innovative firms in the European Union, Juli 2024.
Europäischer Investitionsfonds, Scale-up financing gap, 12. September 2023.
Zahlen für 2022.
Houlihan Lokey, Venture Debt Market Update in Europe as of H1 2024, August 2024.
D. Andreeva, V. Botelho, A. Ferrante, L. Górnicka und F. Lenoci, Low firm productivity: the role of finance and the implications for financial stability, Financial Stability Review, EZB, November 2024.
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