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Die Kapitalmarktunion neu denken
Rede von Christine Lagarde, Präsidentin der EZB, anlässlich des Europäischen Bankenkongresses
Frankfurt am Main, den 17. November 2023
Im Jahr 1844 schrieb der US-amerikanische Schriftsteller Ralph Waldo Emerson, dass Eisenbahnschienen der Zauberstab seien, mit dem sich die schlummernde Energie in Land und Wasser zum Leben erwecken ließe.[1]
Emerson erkannte, dass das Eisenbahnnetz das wirtschaftliche Potenzial seines Heimatlandes deutlich steigern konnte. Wie wir heute wissen, hatte er damit in vielerlei Hinsicht recht.
Das Eisenbahnnetz schuf Verbindungen – zwischen geografisch weit voneinander entfernten Orten der Vereinigten Staaten, aber auch zwischen den Kapitalmärkten des Landes. Die Notwendigkeit zur Finanzierung dieses beispiellosen Großprojekts veränderte das Finanzsystem der Vereinigten Staaten von Grund auf und nachhaltig.
Europa steht heute an einem ähnlichen Scheidepunkt.
Wir hatten es in letzter Zeit mit einer Reihe tiefgreifender wirtschaftlicher Schocks zu tun und sind robust aus ihnen hervorgegangen. Das reale BIP liegt nur 2 % unter dem Wert, von dem wir Ende 2019 ausgegangen waren.[2] Allerdings stellen sich uns einige neue Herausforderungen, deren Finanzierung eine Mammutaufgabe sein wird.
Heute möchte ich darüber sprechen, wie uns diese Mammutaufgabe gelingen kann und insbesondere darauf eingehen, was zu tun ist, damit die europäischen Kapitalmärkte dieses Unterfangen besser unterstützen.
Ich werde darlegen, dass die Kapitalmarktunion in diesem Kontext unverzichtbar ist, wir aus zwei Gründen bis dato aber keinen Fortschritt gemacht haben.
Erstens: Wenn wir uns Beispiele aus der Geschichte vor Augen führen, ist offensichtlich, dass die Voraussetzungen für die Entwicklung der Kapitalmärkte in Europa noch nicht vorhanden sind. Insbesondere gab es bislang kein gemeinschaftliches Projekt, das als Anker für die Kapitalmarktunion hätte dienen können. Dies ändert sich nun aber.
Zweitens: Möglicherweise haben wir bei der Integration in Ermangelung eines solchen Projekts zu sehr auf einen Bottom-up-Ansatz gesetzt. Ich denke, dass wir ganz neu an die Kapitalmarktunion herangehen müssen – wir brauchen einen Wandel nach dem Vorbild Immanuel Kants.
Kant führte ein grundlegendes Umdenken in der Philosophie herbei, indem er postulierte, dass nicht die Welt unsere Wahrnehmung schafft, sondern vielmehr unsere Wahrnehmung – das Produkt unseres menschlichen Geists – bestimmt, wie wir die Welt erleben. Diesem Gedanken folgend können wir auch ein grundlegendes Umdenken bei unserer Herangehensweise an die Kapitalmarktunion erreichen, sodass sie maßgeblich zur Finanzierung der laufenden Transformationen beitragen kann.
Was uns die Vergangenheit lehrt
Was können wir also aus der Geschichte über die Entwicklung von Kapitalmärkten lernen?
Die wichtigste Erkenntnis ist, dass eine Kapitalmarktunion dann entsteht, wenn es einen durch die Transformation der Wirtschaft bedingten Finanzierungsbedarf gibt, der die Kapazitäten fragmentierter Finanzmärkte übersteigt.
Das Beispiel des US-amerikanischen Eisenbahnnetzes ist ein Paradebeispiel hierfür. Im 19. Jahrhundert war der Finanzmarkt in den Vereinigten Staaten äußerst fragmentiert, da einzelne Bundesstaaten die Anzahl der Banken begrenzten. Dadurch entstand in der Wirtschaft ein grundlegendes Missverhältnis.
In den Vereinigten Staaten gab es eine Art Binnenmarkt für Waren und Dienstleistungen, der durch die Handelsklausel der Verfassung gestärkt wurde. Unternehmen konnten ihr Geschäft also landesweit ausbauen. Das Bankensystem war aber noch nicht vergleichbar aufgestellt und somit nicht in der Lage, den aufkommenden Finanzierungsbedarf zu decken.
Besonders akut war dieses Problem beim Ausbau des Eisenbahnnetzes, da die damit verbundenen Kredite risikoreich waren und häufig ausfielen. Keine lokale Bank war in der Lage, derartige Risiken in ihrem Kreditportfolio zu diversifizieren, und eine Kreditsyndizierung war aufgrund von Transaktionskosten zu teuer.
Also sprangen Unternehmen und Anleger als Geldgeber ein. Die Eisenbahnlinien wurden als so wegweisend für die Zukunft des Landes betrachtet, dass Kapitalmärkte geschaffen wurden, um die Finanzierung über ein breiteres Spektrum an in- und ausländischen Investoren zu ermöglichen.
Gemessen in US-Dollar zum Wert von 1909 stiegen die Investitionen in das Eisenbahnnetz von rund 90 Millionen in den 1830er-Jahren auf knapp 5 Milliarden in den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts. Der Großteil der Finanzierung erfolgte über Anleihen, und bis zu einem Drittel der Mittel kam von ausländischen Investoren.[3]
So gesehen ist einer der Gründe, warum die Kapitalmarktunion bislang noch keinen Erfolg hatte, klar.
Seitdem die EU vor fast einem Jahrzehnt die Kapitalmarktunion zu einem politischen Ziel erklärt hat, lag der Fokus bei den zu erwartenden Vorteilen vor allem auf der stabilisierenden Wirkung integrierter Kapitalmärkte. Wir haben uns darauf konzentriert, die Risikoteilung im privaten Sektor zu steigern, um die Währungsunion widerstandsfähiger zu machen, bzw. bei Bankenkrisen zur Stärkung der Resilienz des Finanzsektors über ein „Ersatzrad“ zu verfügen.
Diese hehren Ziele sind in weiten Teilen dem Umfeld geschuldet, in dem die Agenda für die Kapitalmarktunion aufkam – nämlich nach der großen Finanzkrise und der Staatsschuldenkrise im Euroraum. Sie sind jedoch lediglich einige willkommene Nebeneffekte integrierter Kapitalmärkte und nicht deren wichtigste Vorteile.
Wenn wir uns die Vereinigten Staaten zum Vorbild nehmen – oder das Vereinigte Königreich[4] –, dann brauchen wir ein größeres gemeinsames Ziel. Im letzten Jahrzehnt mangelte es in Europa nicht nur an einem solchen Ziel – obendrein fuhren die Staaten und Unternehmen überall ihre Investitionen zurück.
Die EU am Scheideweg
Heute ist die Ausgangslage jedoch ganz anders. In vielerlei Hinsicht haben wir es aktuell mit ähnlichen Fragen zu tun wie damals im 19. Jahrhundert in den Vereinigten Staaten.
Europa steht vor einer Reihe gemeinsamer Herausforderungen, wobei die Themen Deglobalisierung, Demografie und Dekarbonisierung immer mehr an Bedeutung gewinnen.
Es mehren sich die Anzeichen dafür, dass die Weltwirtschaft in miteinander konkurrierende Blöcke zerfällt.[5]
Der seit geraumer Zeit absehbare demografische Kipppunkt steht unmittelbar bevor: Im Euroraum dürfte die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter, also die Zahl der 15- bis 64-Jährigen, bereits ab 2025 kontinuierlich sinken.
Und von Jahr zu Jahr nehmen die Auswirkungen von Klimakatastrophen zu und Klimaschutzmaßnahmen werden dringlicher.
Diese Herausforderungen zur gleichen Zeit anzugehen, wird eine Mammutaufgabe sein – und gewaltige Investitionen innerhalb kurzer Zeit erfordern.
Die Zahl der neuen Handelshemmnisse steigt. Daher werden wir bestehende Lieferketten neu bewerten und in neue Lieferketten investieren müssen, die sicherer, effizienter und näher am Heimatstandort sind. Aufgrund der Bevölkerungsalterung werden neue Technologien zum Einsatz kommen müssen, damit auch mit weniger Arbeitskräften mehr produziert werden kann.[6] Die Digitalisierung wird uns dabei unterstützen. Angesichts der fortschreitenden Erderwärmung werden wir den grünen Wandel ohne weitere Verzögerungen vorantreiben müssen.
Um den damit verbundenen Finanzierungsbedarf zu verdeutlichen: Die Europäische Kommission schätzt, dass allein für den grünen Wandel bis 2030 durchschnittlich zusätzliche 620 Milliarden € pro Jahr und für den digitalen Wandel weitere 125 Milliarden € pro Jahr benötigt werden.[7]
Wie damals im 19. Jahrhundert in den Vereinigten Staaten ist offensichtlich, dass unser bestehendes Rahmenwerk für die Finanzierung dieser Investitionen nicht genügt.
Die Staatsschulden weisen den höchsten Stand seit dem Zweiten Weltkrieg auf, und die Hilfsmittel aus dem EU-Aufbaufonds laufen 2026 aus. Banken werden eine zentrale Rolle spielen müssen, wir können aber nicht von ihnen erwarten, dass sie ein so hohes Risiko in ihre Bilanzen aufnehmen.
Und hier kommt die Kapitalmarktunion ins Spiel.
Trotz zweier Aktionspläne der Europäischen Kommission bleibt unser Kapitalmarkt fragmentiert. Die finanzielle Integration ist schwächer als vor der Finanzkrise. Die Anleihemärkte sind dreimal kleiner als in den Vereinigten Staaten. Und beim Risikokapital bleibt die EU mit nur rund einem Fünftel der Größe deutlich hinter den Vereinigten Staaten zurück.[8]
Diese Transformationen werden uns nur gelingen, wenn wir mit der Kapitalmarktunion weiter vorankommen. Vor allem zwei Faktoren halten Europa zurück.
Erstens kommen bestehende Unternehmen, die die Digitalisierung oder Dekarbonisierung vorantreiben wollen, nicht an das gesamte Finanzierungsvolumen, das sie brauchen. Um nur ein Beispiel zu nennen: bei einer aktuellen Umfrage der EZB gaben fast 40 % der befragten kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) die mangelnde Bereitschaft der Anleger zur Finanzierung grüner Projekte als sehr großes Hindernis an.[9]
Das Problem ist nicht allein, dass KMU ihren Finanzierungsbedarf nicht auf dem Kapitalmarkt decken können, sondern auch, dass die mangelnde Entwicklung des Kapitalmarkts die Fähigkeit der Banken zur Vergabe risikoreicherer Kredite einschränkt.
In einer echten Kapitalmarktunion sollte es einen ausreichend großen Verbriefungsmarkt geben. Dann könnten Banken einen Teil ihrer Risiken auf Anleger übertragen, Kapital freisetzen und mehr Kredite vergeben. In den Vereinigten Staaten haben die Banken Zugang zu einem Verbriefungsmarkt, der dreimal so groß ist wie der europäische. In unserem bankbasierten Finanzsystem könnte ein Verbriefungsmarkt eine noch größere Wirkung entfalten.
Zweitens ist eine Konsequenz unterentwickelter Kapitalmärkte, dass junge, disruptive und innovationsstarke Unternehmen weniger Zugriff auf die Qualität an Finanzierungen haben, die sie brauchen.
Gegenwärtig können Start-ups in Europa weniger als die Hälfte der Finanzierungsmittel abrufen, die Start-ups in den Vereinigten Staaten für sich gewinnen[10], und das Volumen der Investitionen in Scale-ups ist in den Vereinigten Staaten viermal so hoch wie bei uns.[11] Eine Analyse zeigt jedoch, dass die rasche Entwicklung einer Kapitalmarktunion zu 4 800 neuen Unternehmen in ganz Europa führen könnte. Diese könnten zusätzliche Finanzmittel in Höhe von 535 Milliarden € pro Jahr für sich gewinnen.[12]
Was es für den Erfolg braucht
Was sind die wichtigsten Erfolgsfaktoren? Lassen Sie mich hier auf zwei Faktoren näher eingehen.
Erstens ist es für den Erfolg eines Projekts dieser Größenordnung unabdingbar, dass alle Beteiligten – im öffentlichen und im privaten Sektor – unbeirrt auf das gemeinsame Ziel hinarbeiten.
Die Entschlossenheit der Unternehmer und Anleger war im Fall des Eisenbahnnetzes der Vereinigten Staaten von zentraler Bedeutung. Sie konnten aber auch auf eine erhebliche politische Unterstützung für den Ausbau zählen. Für Abraham Lincoln war nichts wichtiger für die Nation als der Bau der Eisenbahnverbindung zum Pazifik.
Auch heute müssen sich also alle Beteiligten geschlossen hinter das Projekt stellen, denn es ist entscheidend für den künftigen Wohlstand Europas.
Zweitens muss unsere kollektive Entschlossenheit zu einem Umdenken bei der Herangehensweise führen.
Bislang haben wir bei der Umsetzung der Kapitalmarktunion einen Bottom-up-Ansatz verfolgt. Der Fokus lag auf der Entwicklung lokaler und regionaler Kapitalmärkte, um so die Beschränkungen kleiner inländischer Konstellationen zu überwinden und anschließend die Hindernisse auf dem Weg zu einer weiteren Integration dieser Märkte aus dem Weg zu räumen.
Mit einzelnen Gesetzesänderungen wurden Hemmnisse und Uneinheitlichkeiten systematisch in Angriff genommen – und zwar durchaus erfolgreich. Die Änderungen betrafen ganz unterschiedliche Bereiche – von Clearingsystemen und nachhaltigkeitsbezogenen Offenlegungen bis hin zu Investitionen von Kleinanlegern und Investmentfonds.[13]
Dennoch ist offensichtlich, dass diese Strategie für die Stakeholder keine ausreichenden Anreize zur Schaffung eines europäischen Marktes geboten hat. Obwohl der Aktienmarkt in Europa nicht einmal halb so groß ist wie in den Vereinigten Staaten, gibt es bei uns dreimal so viele Börsengruppen. Zudem gibt es bei uns rund 20-mal so viele Anbieter von Nachhandelsinfrastrukturen. Das verringert Markttiefe und -liquidität und erschwert so die Entwicklung größerer Kapitalmärkte.
Der Bottom-up-Ansatz hat auch keine Harmonisierung in den Bereichen bewirkt, die im Hinblick auf die Beseitigung grenzüberschreitender Hindernisse greifbare Ergebnisse liefern würde.
So gibt es trotz einiger Anstrengungen zur Harmonisierung der Insolvenzregelungen keine einheitliche Festlegung, was die Rangfolge von Kreditforderungen oder die Voraussetzungen für die Einleitung von Insolvenzverfahren betrifft. Dies hält Anleger davon ab, in Unternehmen in anderen Mitgliedstaaten zu investieren, und beeinträchtigt die Entwicklung eines liquiden Sekundärmarkts für notleidende Vermögenswerte.
Folglich ist es nun an der Zeit, unseren Ansatz von Grund auf neu zu denken und von einem Bottom-up- zu einem Top-down-Ansatz überzugehen.
Der Kapitalmarkt in den Vereinigten Staaten entwickelte sich organisch als Reaktion auf einen Finanzierungsbedarf. Dennoch war die Schaffung angemessener Institutionen von entscheidender Bedeutung, um das Moment aufrechtzuerhalten. So spielte die Einrichtung der Securities and Exchange Commission (SEC) in den 1930er-Jahren eine zentrale Rolle, als es darum ging, einer Fragmentierung der Wertpapiermärkte auf Ebene der Bundesstaaten entgegenzuwirken.
Die ESMA, die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde, übt in der EU teils ähnliche Funktionen aus, aber nicht wirklich einheitlich. Die Aufsicht verbleibt in weiten Teilen auf nationaler Ebene, wodurch es zu einer fragmentierten Anwendung von EU-Regeln kommt. In der Praxis sind die Durchsetzungsbefugnisse häufig auf mehrere nationale Regulierungsbehörden aufgeteilt.
Die Schaffung einer europäischen SEC, beispielsweise durch Ausweitung der Befugnisse der ESMA, könnte daher die Lösung sein. Diese neue Institution müsste einen weit gefassten Auftrag haben, einschließlich der direkten Aufsicht. So ließe sich Systemrisiken entgegenwirken, die von großen grenzüberschreitend tätigen Unternehmen und Marktinfrastrukturen ausgehen wie beispielsweise den zentralen Gegenparteien in der EU.
Neben einer starken Institution braucht es aber auch ein einheitliches Regelwerk – diese Lehre können wir aus unseren Erfahrungen im Bankensektor ziehen. Vor der großen Finanzkrise führte ein Ansatz, der auf einer minimalen Harmonisierung basierte, zu einem schwachen Regulierungsrahmen. Ungleiche Wettbewerbsbedingungen und eine oberflächliche, reversible Finanzintegration waren die Folge.[14]
Als dann aber die Bankenunion geschaffen wurde, kam es durch die Ausarbeitung eines einheitlichen Regelwerks – einer Reihe einheitlicher, direkt für alle Banken geltender Regeln – zur Angleichung der Wettbewerbsbedingungen.
Um der Fragmentierung der Kapitalmärkte in der EU entgegenzuwirken, sollten die Ziele höher gesteckt werden. Sie sollten die Schaffung eines einheitlichen Regelwerks umfassen, für dessen Durchsetzung eine einheitliche Aufsichtsinstanz zuständig ist. Das würde es privaten Akteuren ermöglichen, stärker auf wachstumsstarke private Anlagen zu setzen.
Schließlich ist für einen wahrhaft europäischen Kapitalmarkt eine konsolidierte Marktinfrastruktur nötig – und auch hier kann der private Sektor seine Entschlossenheit unter Beweis stellen.
Die Schaffung eines europäischen konsolidierten Datentickers[15] kann einen Wechsel hin zu größeren, grenzüberschreitenden Marktinfrastrukturen und Börsengruppen anstoßen. Studien zeigen, dass Aktienmärkte, die Teil größerer Gruppen sind, im Hinblick auf Tiefe, Zahl der Erstemissionen und Liquidität besser abschneiden. Bei kleineren Börsen ist dieser Gruppeneffekt besonders stark.[16]
Schlussbemerkungen
Lassen Sie mich abschließend auf Immanuel Kant zurückkommen.
Laut Kant soll man das Richtige tun, weil es richtig ist. Kant stellte jedoch auch klar, dass ein solches Handeln nur mit gutem Willen als Grundlage möglich ist.
Das gleiche Prinzip lässt sich auch auf die Entwicklung einer echten Kapitalmarktunion übertragen. Der gute Wille ist als Voraussetzung da. Politik, Banken und Anleger – alle haben Interesse am Erfolg dieses Projekts. Auf diesem guten Willen müssen wir nun aufbauen und weiter voranschreiten. Andernfalls riskieren wir, dass Europa nicht für seine künftigen Herausforderungen gewappnet ist.
Bei der Errichtung einer Kapitalmarktunion gibt es, wie ich dargelegt habe, gute kollektive Gründe für mehr Ehrgeiz auf europäischer Ebene. Wir befinden uns in einer Zeit des Wandels. Die Herausforderungen der Deglobalisierung, Demografie und Dekarbonisierung gewinnen immer mehr an Bedeutung. Integrierte Kapitalmärkte sind hier der Schlüssel zu unserem Erfolg.
Einige werden sagen, dass dieses Projekt ohne Emission gemeinsamer EU-Anleihen, die ähnlich wie US-Staatsanleihen eine sichere europäische Anlageform darstellen würden, zum Scheitern verurteilt ist.
Selbst wenn das zutrifft, sollte uns das nicht davon abhalten, an den zahlreichen anderen Bereichen zu arbeiten, die eine notwendige Voraussetzung für die Umsetzung einer Kapitalmarktunion sind. Die Erfahrungen mit der europäischen Integration haben uns gelehrt, dass wir den nächsten Schritt machen müssen, wenn sich die Gelegenheit hierzu ergibt. Die weiteren Schritte werden schließlich folgen.
Angesichts des enormen Finanzierungsbedarfs müssen wir jetzt handeln. Es gilt also für uns alle: Habt Mut und lasst den Moment nicht ungenutzt verstreichen!
R.W. Emerson, The Young American, Vortrag vor der Mercantile Library Association, Boston, 7. Februar 1844.
Diese Zahl basiert auf einem Vergleich des in den Gesamtwirtschaftlichen Euroraum-Projektionen von Fachleuten des Eurosystems vom Dezember 2019 erwarteten Werts für das reale BIP im zweiten Quartal 2023 mit dem tatsächlich für diesen Zeitraum ermittelten Wert.
J. N. Gordon und K. Judge, The Origins of a Capital Market Union in the United States, ECGI Working Paper Series in Law, Nr. 395, European Corporate Governance Institute, April 2018.
Im Vereinigten Königreich kam es im 19. Jahrhundert zu einer raschen Urbanisierung, die Sterblichkeitsraten stiegen. Vor diesem Hintergrund brauchten die Kommunen dringend Mittel, um Straßen, die Kanalisation, Gaswerke, Schulen und Krankenhäuser zu finanzieren. Infolgedessen wuchs der Kapitalmarkt für lokale Gebietskörperschaften bis 1900 auf rund die Hälfte der Größe des Markts für öffentliche Schuldtitel an. Siehe I. Webster, Making the municipal capital market in nineteenth-century England, The Economic History Review, Bd. 75, Nr. 1, Februar 2022, S. 56-79.
Welthandelsorganisation, World Trade Report 2023 – Re-globalization for a secure, inclusive and sustainable future, 2023.
D. Acemoglu und P. Restrepo, Secular Stagnation? The Effect of Aging on Economic Growth in the Age of Automation, American Economic Review, Bd. 107, Nr. 5, S. 174-179, 2017.
Europäische Kommission, 2023 Strategic Foresight Report – Sustainability and people’s wellbeing at the heart of Europe’s Open Strategic Autonomy, Juli 2023.
EZB, The EU’s Open Strategic Autonomy from a central banking perspective – challenges to the monetary policy landscape from a changing geopolitical environment, Occasional Paper Series, Nr. 311, Frankfurt am Main, März 2023.
Siehe A. Ferrando, J. Groß und J. Rariga,Climate change and euro area firms’ green investment and financing – results from the SAFE, Wirtschaftsbericht 6/23, EZB, September 2023.
Neun Jahre nach Gründung. Siehe Europäische Investitionsbank, From starting to scaling – How to foster startup growth in Europe, Mai 2020.
Europäischer Investitionsfonds, Scale-up financing gap, September 2023.
Außerdem könnte dann zusätzliches langfristiges Kapital in Höhe von 14 Billionen € in der EU-Wirtschaft zugunsten der Transformation eingesetzt werden. Siehe P. Asimakopoulos, E. F. Hamre und W. Wright, A New Vision for EU Capital Markets – Analysis of the State of Play & Growth Potential in EU Capital Markets, New Financial, Februar 2022.
Siehe Legislative measures taken so far to build a CMU auf der Website der Europäischen Kommission und Kapitalmarktunion auf der Website des Rats der Europäischen Union.
Report of the High-Level Group on Financial Supervision in the EU, 25. Februar 2009.
Optionale Teilnahme kleinerer Handelsplätze, auf die weniger als 1 % des Handelsvolumens der Aktien in der EU entfallen. Siehe entsprechendes Dokument des Rats der Europäischen Union.
W. Wright und E. F. Hamre, Report: the problem with European stock markets, The future of EU capital markets, New Financial, März 2021.
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