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Geldpolitik im Euroraum
Karl Otto Pöhl Lecture von Christine Lagarde, Präsidentin der EZB, organisiert von der Frankfurter Gesellschaft für Handel, Industrie und Wissenschaft
Frankfurt am Main, 20. September 2022
Es ist mir eine Ehre, heute Abend die Karl Otto Pöhl Lecture zur Geldpolitik im Euroraum halten zu dürfen.
Nach einer langen Zeit, in der die Inflation im Euroraum zu niedrig war, ist sie nun deutlich zu hoch. Den zehnten Monat in Folge verzeichnen wir rekordhohe Inflationsraten, und es kann sein, dass sich diese Entwicklung auch in der näheren Zukunft so fortsetzt.
Grund für die aktuelle Inflation ist eine Reihe beispielloser Schocks, die zu konjunkturellen Wendepunkte in der Weltwirtschaft geführt haben. Das hat dazu geführt, dass der Preisdruck deutlich stärker ist und länger andauert als ursprünglich erwartet.
Vor diesem Hintergrund muss die Geldpolitik sicherstellen, dass die Inflation sich nicht verfestigt und dass sie auf mittlere Sicht zu unserem Ziel zurückkehrt. Unsere geldpolitische Reaktion wird der spezifischen Konstellation aus Schocks, mit der wir es im Euroraum derzeit zu tun haben, Rechnung tragen müssen.
In meinem heutigen Vortrag möchte ich zwei Punkte ansprechen.
Zum einen die Art des Inflationsschocks, mit dem wir es derzeit im Euroraum zu tun haben, und zum anderen die Folgen, die sich daraus für die Geldpolitik heute und in Zukunft ergeben.
Schocks für die Wirtschaft des Euroraums
Wenn die Inflation von unserem Ziel abweicht, ist für die angemessene Reaktion gemäß unserer geldpolitischen Strategie ausschlaggebend, was die Ursache der Abweichung ist, wie stark sie ist und wie lange sie andauert.
Wenn ein Inflationsschock vor allem in der Nachfrage begründet ist, handelt die Geldpolitik üblicherweise proaktiv, um eine Überhitzung der Wirtschaft zu verhindern. Sind Zentralbanken mit Angebotsschocks konfrontiert und ist davon auszugehen, dass sich diese Schocks nicht dauerhaft auf die Inflation auswirken, so reagieren die Notenbanken nicht darauf und verlängern gegebenenfalls den mittelfristigen geldpolitischen Horizont.
Aber die aktuelle Lage im Euroraum wird von diesen klar abgegrenzten Kategorien nicht angemessen erfasst.
Wir haben es nicht mit einer nachfrageseitigen Überhitzung wie in den Vereinigten Staaten zu tun, und trotz der angespannten Lage am Arbeitsmarkt scheint das Risiko einer Lohn-Preis-Spirale bislang unter Kontrolle zu sein.
Im Euroraum haben wir es vielmehr mit einem Anstieg der Inflation zu tun, der von zwei beispiellosen Schocks bestimmt wird. Diese Schocks haben das weltweite Angebot beschränkt, aber sie haben auch die Nachfrage verschoben und zu einer umfangreichen und lang anhaltenden Reaktion der Inflation geführt.
Einer der beiden Schocks war die Pandemie. Pandemiebedingte Lieferengpässe und steigende Preise verstärkten einander. Die Unternehmen reagierten auf die Gefahr einer Verknappung, indem sie früher und mehr bestellten als zuvor. Dieser Peitscheneffekt[1] hatte höhere Preise entlang der Preiskette zur Folge.
Zugleich hat die finanzpolitische und geldpolitische Reaktion auf die Pandemie die nominalen Einkommen erfolgreich geschützt und so eine rasche Erholung der Nachfrage unterstützt, als unsere Wirtschaft wieder hochgefahren wurde. Die Widerstandsfähigkeit der nominalen Einkommen hat wiederum große Schwankungen der Nachfrage verursacht.
Während der Lockdownphase konzentrierten sich die Konsumausgaben auf Gebrauchsgüter, vor allem auch wegen des Online-Handels. Als dann die Wirtschaft wieder hochgefahren wurde, löste sich die bis dahin aufgestaute starke Nachfrage nach Dienstleistungen auf. Seit Ausbruch der Pandemie ist die Volatilität der Konsumausgaben für Gebrauchsgüter fast zehnmal so hoch wie in den zwei Jahrzehnten zuvor. Im Fall der Dienstleistungen ist sie fast 30 Mal so hoch.
Das hat dazu geführt, dass die Inflation sowohl bei den Industrieerzeugnissen als auch bei den Dienstleistungen an Breite gewonnen hat. Derzeit liegen die Inflationsraten von rund drei Viertel der Komponenten der Kerninflation bei über 2 %.
Der andere Schock war die ungerechtfertigte Invasion der Ukraine durch Russland.
Schon vor der Invasion belasteten die Drosselung der Fördermengen durch die OPEC+ und Kapitalengpässe bei den US-Schieferölproduzenten die Energieversorgung. Dies führte zu einem Ausschlag bei den Energiepreisen – ein wesentlicher Grund dafür, dass wir die Inflation unterschätzt haben.[2]
Die Invasion hat die Lieferengpässe drastisch verschärft. In der Folge sind die Energiepreise in die Höhe geschnellt, was Inflationsprognosen weiter erschwert. Die europäischen Gas- und Strompreise liegen 105 % bzw. 75 % über ihrem Stand in den Monaten vor der Invasion[3] und rund 650 % bzw. 450 % über den in der ersten Jahreshälfte 2021 verzeichneten Werten.
Dieser starke Anstieg der Energiepreise hat seit Jahresbeginn direkt rund 30 % zur Gesamtinflation beigesteuert und indirekt dazu beigetragen, dass der Preisdruck in der Wirtschaft an Breite gewonnen hat. Die Modelle der nationalen Zentralbanken deuten darauf hin, dass die indirekten Effekte höherer Energiekosten derzeit rund ein Drittel der Kerninflation ausmachen.
Die Hartnäckigkeit der Inflation
Zusammengenommen haben diese Schocks die Inflation ein gutes Stück von unserem Ziel entfernt. Die Gesamtinflation – die sich noch im Dezember 2020 in negativem Terrain befunden hatte – stieg um 9,4 Prozentpunkte von ihrem Tiefstand während der Pandemie auf ihren Höchststand im vergangenen Monat. Die Kerninflation zog um 4,1 Prozentpunkte an.
In der jüngeren Vergangenheit haben sich Schocks auf die Produktion oder Energie dank eines elastischen weltweiten Angebots letztendlich aufgelöst. Nach dem Einmarsch des Irak in Kuwait in den 1990er-Jahren fielen die Ölpreise beispielsweise nach rund fünf Monaten auf ihren Stand vor dem Krieg. Und nach dem Erdbeben und nuklearen Unfall in Japan im Jahr 2011 normalisierte sich die Produktion japanischer Unternehmen Schätzungen zufolge nach gerade einmal sieben Monaten.[4]
Die durch die Pandemie und den Krieg in der Ukraine ausgelösten Schocks haben auch zu etwas geführt, das ich bereits bei anderen Gelegenheiten eine neue globale Landkarte wirtschaftlicher Beziehungen genannt habe.[5] Aufgrund der wirtschaftlichen Wendepunkte auf dieser neuen globalen Landkarte dürften die Lieferengpässe heute länger anhalten als in der Vergangenheit. Und das bedeutet wiederum, dass es länger dauern wird, bis die inflationären Effekte dieser Schocks abklingen.
Zwei Punkte sind in diesem Zusammenhang von Bedeutung.
Zum einen ist es durch die Geopolitik zu Verwerfungen an den europäischen Energiemärkten gekommen.
Die Reduzierung der Gaslieferungen infolge der russischen Invasion ist zu einer zentralen strukturellen Veränderung geworden, deren Folgen noch mehrere Jahre lang zu spüren sein werden. Nach den zwei Ölschocks der 1970er-Jahre beispielsweise – OPEC-Embargo und iranische Revolution – hielten die Auswirkungen auf die Ölpreise auch drei Jahre später noch an. Denn in beiden Fällen hingen die Schocks mit dauerhaften Veränderungen der geopolitischen Landschaft zusammen, und die Verringerung der Öllieferungen ließ sich nicht vollständig durch Öl aus anderen Quellen ausgleichen.[6]
Heute dürften die Preise fossiler Brennstoffe für einige Zeit höher bleiben, auch wenn die Antwort der EU den Anstieg der Energiekosten abfedern wird. Einen vollständigen Ersatz für europäische Importe fossiler Energieträger aus Russland zu finden, ist auf kurze Sicht eine Herausforderung, obwohl es immer mehr Beispiele dafür gibt, dass es zu Substitutionseffekten kommt.[7]
Längerfristig gesehen dürfte der Krieg den grünen Wandel in Europa beschleunigen, einschließlich des Umstiegs auf erneuerbare Energien. Dies wird erhebliche grüne Investitionen erfordern, in der Übergangsphase aber auch Investitionen in die Öl- und Gasförderung belasten. Letzteres könnte zu einem Zeitpunkt zu Aufwärtsdruck bei den Preisen für fossile Brennstoffe führen, an dem die Nachfrage nach diesen Brennstoffen noch hoch ist.
Sollten die Energiepreise in der Übergangsphase dauerhaft höher sein, könnte das die Industrieproduktion in Europa beeinträchtigen und sich sowohl auf das Angebot als auch auf die Preise auswirken. Genau damit rechnen zumindest die Unternehmen im Euroraum. In einer kürzlich durchgeführten EZB-Umfrage erwarteten mindestens 80 % der Teilnehmenden, dass die aktuelle Übergangsphase die Rohstoffe und Energie, die sie nutzen, teurer macht, wodurch wiederum die Preise ihrer Produkte steigen werden.[8]
Zum anderen verändert sich die Globalisierung bereits jetzt und auch in Zukunft.
Durch die Pandemie verursachte Störungen, die Offenlegung von Anfälligkeiten, die neue geopolitische Landschaft und höhere Energie- und Transportkosten dürften eine Neubewertung globaler Wertschöpfungsketten auslösen.
Ich denke nicht, dass es zu einer Entglobalisierung kommen wird. Allerdings werden Unternehmen wahrscheinlich dauerhaft größere Lagerbestände vorhalten, ihre Lieferketten verkürzen und hochwertige Dienstleistungen sowie Entwicklung und Forschung an andere Standorte verlagern. Das gilt insbesondere im Fall strategischer Überlegungen. Es könnte auch sein, dass energieintensive Produktion verlagert wird, da die Auswirkungen des aktuellen Energiepreisschocks ungleich verteilt sind. Darüber hinaus werden das Tempo des grünen Wandels und der neue Energie-Mix zu erheblichen Transformationen beitragen.
Eine kürzlich durchgeführte Umfrage zeigte, dass rund 60 % der Unternehmen ihre Lagerbestände kritischer Produkte Ende 2021 erhöht haben, und fast 90 % gingen davon aus, dass sie ihre Produktion in den nächsten drei Jahren in die Region verlagern würden.[9] Dies dürfte die Effizienz verringern und die Kosten steigern, was zu Preisdruck führen könnte, während sich die Lieferketten anpassen. Es könnte auch zu einem volatileren Konjunkturzyklus kommen. [10]
Mit der Zeit könnten die von mir genannten Wendepunkte allerdings auch die Auswirkungen auf die Preise dämpfen. So sollte der grüne Wandel u. a. letztlich zu sinkenden Strompreisen führen. Und sofern der Lagerzyklus zurückkehrt, wäre er ein Multiplikator niedrigerer Preise, wenn Lagerbestände in einem Abschwung aufgelöst werden.
Die geldpolitische Reaktion der EZB
Die angebotsseitigen Einschränkungen sind also ein wichtiger Grund dafür, dass die Inflation noch längere Zeit über unserem Zielwert bleiben dürfte – und ihr Effekt wird durch die Auflösung der aufgestauten Nachfrage noch verschärft. In einem solchen Umfeld muss die Geldpolitik verhindern, dass sich Abweichungen von unserem Inflationsziel verfestigen, und sie muss die Inflation mittelfristig auf unseren Zielwert von 2 % zurückführen.
In diesem Zusammenhang sind zwei Punkte wichtig:
Der erste ist das endgültige Ziel der Geldpolitik: Wir müssen die Geldpolitik normalisieren und bereit sein, die Leitzinsen im erforderlichen Umfang anzupassen, damit wir unser Inflationsziel auf mittlere Frist erreichen.
Der zweite Punkt ist das Tempo der Leitzinserhöhungen: Da die Zinsen ausgehend von einem sehr niedrigen Niveau steigen, kann das Tempo der Leitzinserhöhungen die Signalfunktion der Geldpolitik direkt aktivieren.
Auf diese beiden Punkte möchte ich im Folgenden im Einzelnen eingehen.
Das endgültige Ziel der Geldpolitik
Ist die Inflation hoch und das Wachstum durch ein unelastisches Angebot gehemmt, so darf die Geldpolitik nicht expansiv bleiben und durch das Ankurbeln der Nachfrage den Inflationsdruck weiter verschärfen. Daher ist es angemessen, eine Strategie der geldpolitischen Normalisierung zu verfolgen. Wie bereits in meinem Blogbeitrag vom Mai dieses Jahres[11] dargelegt, bedeutet Normalisierung, dass wir die Nettoankäufe von Vermögenswerten einstellen und dann die Leitzinsen auf ein neutrales Niveau anheben – also auf ein Niveau, das weder expansiv noch restriktiv ist.
Daher hat die EZB nicht nur mit der Anhebung der Leitzinsen begonnen, sondern auch die Erwartungshaltung kommuniziert, dass bei den nächsten Sitzungen weitere Leitzinserhöhungen folgen werden. Damit diese Änderungen unseres geldpolitischen Kurses ihre Wirkung entfalten können, haben wir in den vergangenen Monaten mehrere Beschlüsse getroffen, die eine geordnete Transmission unseres Kurses in allen Ländern des Euroraums gewährleisten sollen.[12]
Bei unseren weiteren Schritten werden wir überprüfen, ob eine Normalisierungsstrategie genügt, damit die Inflation mittelfristig auf den Zielwert von 2 % zurückkehrt. Letztlich muss der Leitzins, mit dem unser Erhöhungszyklus endet, dafür sorgen, dass die Inflation auf Dauer auf unser Ziel zurückkehrt. Die Höhe dieses Leitzinses wird von der weiteren Entwicklung unseres wirtschaftlichen Umfelds abhängen.
Eine entscheidende Frage wird sein, wie hartnäckig die aktuellen Schocks die Inflationserwartungen und das Produktionspotenzial belasten. Bei Hinweisen darauf, dass die hohe Inflation zu einer Entankerung der Inflationserwartungen führen könnte, läge der mit unserem Zielwert kompatible Leitzins im restriktiven Bereich. Und würden wir feststellen, dass anhaltende Angebotsschocks das wirtschaftliche Potenzial dauerhaft verringern, so müssten wir sicherstellen, dass die Nachfrage weiterhin mit dem Angebot im Einklang steht.
Eine weitere entscheidende Frage wird sein, wie sich die Wachstumsaussichten auf die Inflation auswirken. Negative Angebotsschocks werden eine Wachstumsabschwächung zur Folge haben, was sich in der jeweiligen Inflationsrate niederschlagen dürfte. Bei früheren Rezessionen in den Ländern des Euroraums im Zeitraum seit den 1970er-Jahren sank die Gesamtinflation ein Jahr nach der Rezession um etwa 1,1 Prozentpunkte, die Kerninflation hingegen um etwa die Hälfte dieses Wertes.[13]
Diese Regel ist aber nicht in Stein gemeißelt. In einigen Rezessionsphasen, die z. B. sich verschlechternden Angebotsbedingungen zuzuschreiben waren, blieb die Inflation gleich oder nahm sogar zu. Im Abwärtsszenario unserer Projektionen, das neben weiteren Schocks auch abbildet, welche Folgen es hätte, wenn Russland die Gaslieferungen an Europa komplett einstellt, kühlt sich die Wirtschaft 2023 ab und erholt sich 2024 wieder. Allerdings dürfte die Inflation am Ende des Projektionszeitraums höher sein als im Basisszenario.[14]
Ein dritter Faktor werden staatliche Maßnahmen sein. Die Geldpolitik wird tun, was nötig ist, um die Inflation auf unser Ziel zurückzuführen. Ein wirklich europäischer Ansatz, bei dem Geld- und Finanzpolitik ineinander greifen, kann die Inflationsaussichten verbessern.
Entscheidend für die Inflationsentwicklung wird insbesondere sein, wie gut die finanzpolitischen Maßnahmen Unternehmen wie auch Privathaushalte in dem vor uns liegenden schwierigen Winter unterstützen werden. Der Schutz der Einkommen der schwächsten Mitglieder der Gesellschaft bedarf zielgerichteter, temporärer und auf die jeweilige Situation zugeschnittener Maßnahmen. Zugleich muss verhindert werden, dass es aufgrund von Produktionskürzungen und Insolvenzen zu massiven Kapazitätseinbußen kommt.
Darüber hinaus wird es einen Unterschied machen, ob sich die Finanzpolitik vor allem auf die öffentlichen Ausgaben und Transferleistungen konzentriert – wodurch womöglich der Inflationsdruck zunimmt – oder auf die öffentlichen Investitionen und die Schuldentragfähigkeit. Da viele der Ursachen der aktuellen Inflation auf der Angebotsseite liegen, bedarf es zur Stützung eines nachhaltigen Wachstums staatlicher Maßnahmen, die das Angebot ankurbeln und die Investitionen dorthin umlenken, wo sie benötigt werden.
Das Tempo der Leitzinserhöhungen
Die zweite Überlegung, die in die Reaktion auf die derzeitige Inflation einfließt, ist das Tempo der Leitzinserhöhungen.
Ist die Inflation über einen langen Zeitraum hoch, so muss die Geldpolitik unter anderem gewährleisten, dass die Inflationserwartungen verankert bleiben, während die Schocks auf die Wirtschaft durchwirken. Kommt es zur Entankerung der Inflationserwartungen und lösen sie eine Lohn-Preis-Spirale aus, kann dies dazu führen, dass die Inflation selbst dann anhält, wenn die Schocks bereits abklingen.
Die Anhebung der Leitzinsen wirkt sich in mechanischer Weise auf Nachfrage und Inflation aus und schlägt sich somit auch in den Inflationserwartungen nieder. Steigen die Zinsen ausgehend von einem ungewöhnlich niedrigen Niveau, so entfalten Leitzinserhöhungen mehr Kraft, wenn von ihnen auch eine Signalwirkung ausgeht, die die Inflationserwartungen direkt beeinflusst.
In diesem Kontext – vor allem vor dem Hintergrund, dass die Leitzinsen herkömmlicherweise in Schritten von jeweils 25 Basispunkten erhöht wurden –, ist die Anpassung des Tempos der Leitzinserhöhungen ein zentrales Instrument, um zu signalisieren, dass wir fest entschlossen sind, unser Mandat zu erfüllen und die Inflationserwartungen in Schach zu halten. Ein schnelleres Tempo zu Beginn des Erhöhungszyklus demonstriert unmissverständlich, dass wir die Inflation auf unser mittelfristiges Ziel zurückführen wollen.
Aktuell sind die an einer Reihe von Größen gemessenen Inflationserwartungen weiterhin vergleichsweise gut verankert. Aus zweierlei Gründen sollte dies aber nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden.
Erstens wirkt sich der Schock massiv auf die Preise von Verbrauchsgütern wie Nahrungsmittel und Kraftstoffe aus. Diese Preise spielen für die Erwartungen der privaten Haushalte die größte Rolle.[15] Aus unserer Umfrage zu den Verbrauchererwartungen geht hervor, dass seit Februar 2022 sowohl der Mittel- als auch der Medianwert für die in drei Jahren erwartete Inflation um etwa 1 Prozentpunkt gestiegen ist.
Zweitens ist vor dem Hintergrund eines Wechsels von einer sehr niedrigen zu einer sehr hohen Inflation ein rapider Wandel des wirtschaftlichen Umfelds zu beobachten. Erfahrungsgemäß kann dies die Erwartungen nachhaltig belasten.
Studien zufolge lassen sich Unterschiede bei den Erwartungen von Ost- und Westdeutschen großteils durch die dauerhaften Folgen des Inflationsschocks nach der Wende erklären. Dieser stand im scharfen Kontrast zu der Wahrnehmung in der DDR, dass Nullinflation die Norm ist. Dies dürfte die Ostdeutschen dazu veranlasst haben, in einem Umfeld mit steigenden Preisen ihre Erwartungen zu stark anzupassen.[16]
Die Verankerung der Inflationserwartungen ist unerlässlich. Dies ist auch einer der Gründe, warum wir bei den letzten beiden geldpolitischen Sitzungen des EZB-Rats die Leitzinsen um insgesamt 125 Basispunkte angehoben haben. Dies war die schnellste Zinsänderung in der Geschichte der EZB. Sie signalisiert deutlich, dass wir fest entschlossen sind, die Inflation zeitnah auf unser mittelfristiges Ziel zurückzuführen. Dieser große Schritt trug auch dem besonders niedrigen Zinsniveau und der Tatsache Rechnung, dass das Risiko einer Überreaktion zu Beginn des Erhöhungszyklus überschaubar ist.
Das angemessene Tempo künftiger Leitzinserhöhungen wird von Sitzung zu Sitzung beschlossen werden. Wir haben mehrfach darauf hingewiesen, dass unsere Beschlüsse auch künftig in allen Szenarien von der Datenlage abhängen. Für die endgültige Höhe der Leitzinsen und den Umfang der Zinsschritte wird ausschlaggebend sein, wie sich die Inflationsaussichten entwickeln.
Schlussbemerkungen
Lassen Sie mich nun zum Schluss kommen.
Die Inflation im Euroraum hat sich als deutlich höher und hartnäckiger erwiesen als ursprünglich erwartet. Grund hierfür sind einige noch nie dagewesene Schocks und die Tatsache, dass diese Schocks zu Wendepunkten in unserem wirtschaftlichen Umfeld geführt haben.
Die Geldpolitik kann nicht verhindern, dass von vielen dieser Schocks Erstrundeneffekte ausgehen. Sie kann aber sicherstellen, dass sich die Erstrundeneffekte nicht verfestigen. Die EZB stellt dies mit den beschlossenen Maßnahmen sicher.
Auf dem Weg hin zur Normalisierung unserer Geldpolitik haben wir einige große Schritte getan und Leitzinserhöhungen an den Anfang des Erhöhungszyklus vorgezogen. Dieses Vorgehen signalisiert, dass wir fest entschlossen sind, die Inflation zeitnah wieder auf unser mittelfristiges Ziel von 2 % zurückzuführen und dafür zu sorgen, dass die Inflationserwartungen fest verankert bleiben.
Wir werden nicht zulassen, dass sich die aktuelle Phase hoher Inflation im Verhalten der Wirtschaftsakteure niederschlägt und zu einem dauerhaften Inflationsproblem auswächst. Bei unserer Geldpolitik lassen wir uns von einem Ziel leiten: der Erfüllung unseres Preisstabilitätsziels.
D. Rees und P. Rungcharoenkitkul, Bottlenecks: causes and macroeconomic implications, BIS Bulletin, Nr. 48, Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, November 2021.
EZB-Fachleute schätzen, dass Fehler in unseren Annahmen über die Energiepreise im Zeitraum von Jahresbeginn 2021 bis zum ersten Quartal 2022 rund 75 % unserer Prognosefehler auf Sicht von einem Quartal erklären. M. Chahad, A.-C. Hofmann-Drahonsky, B. Meunier, A. Page und M. Tirpák, Erklärungen für die jüngsten Fehler in den Inflationsprojektionen des Eurosystems und der EZB, Kasten 5, Wirtschaftsbericht 3/2022, April 2022.
Durchschnitt vom 1. Januar 2022 bis zum 23. Februar 2022.
Siehe C. E. Boehm, A. Flaaen und N. Pandalai-Nayar, Input Linkages and the Transmission of Shocks: Firm-Level Evidence from the 2011 Tōhoku Earthquake, The Review of Economics and Statistics, Bd. 101, Nr. 1, MIT Press, S. 60-75, März 2019.
C. Lagarde, A new global map:European resilience in a changing world, Grundsatzrede am Peterson Institute for International Economics, Washington, D.C., 22. April 2022.
J. D. Hamilton, Historical Oil Shocks, Working Paper Series des NBER, Nr. 16790, National Bureau of Economic Research, Februar 2011.
R. Bachmann et al. How it can be done, ECONtribute Policy Brief Nr. 34, 2022.
F. Kuik, R. Morris und Y. Sun, Die Auswirkungen des Klimawandels auf Aktivität und Preise – Erkenntnisse aus einer Umfrage unter führenden Unternehmen, Wirtschaftsbericht 4/2022, Juni 2022.
McKinsey, How COVID-19 is reshaping supply chains, 23 November 2021.
In US-Rezessionen von den 1950er- bis zu den 1980er-Jahren waren Investitionen in Lagerbestände für 1,4 Prozentpunkte des durchschnittlichen vollständigen Rückgang des realen BIP in Höhe von 2 % verantwortlich. Siehe J. M. Piger, Is the Business Cycle Still an Inventory Cycle?, Economic Synopses, Nr. 2, Federal Reserve Bank of St. Louis, 2005.
C. Lagarde, Monetary policy normalisation in the euro area, Der EZB-Blog, 23. Mai 2022.
Der EZB-Rat beschloss, die Tilgungsbeträge fällig werdender Wertpapiere im Rahmen des Pandemie-Notfallankaufprogramms flexibel wieder anzulegen. Zudem legte er ein neues Instrument zur Absicherung der Transmission auf.
Hierbei handelt es sich um einen Medianwert der Rezessionen.
Siehe Abwärtsszenario im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine und Störungen der Energieversorgung, Gesamtwirtschaftliche Euroraum-Projektionen von Fachleuten des Eurosystems, September 2022.
M. Weber, F. D’Acunto, Y. Gorodnichenko und O. Coibion The Subjective Inflation Expectations of Households and Firms: Measurement, Determination and Implications, Working Paper Series des NBER, Nr. 30046, National Bureau of Economic Research, Mai 2022.
O. Goldfayn-Frank und J. Wohlfart, Expectation formation in a new environment: Evidence from the German reunification, Journal of Monetary Economics, Bd. 115, S. 301-320, 2020.
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